3. Folgen der neuen Rechtsprechung – die Unwahrhypothese

„Gegenstand der aussagepsychologischen Begutachtung ist die Beurteilung, ob die Angaben zu einem bestimmten Geschehen dem tatsächlichen Erleben der zu untersuchenden Person entsprechen. Dabei wird der zu überprüfende Sachverhalt so lange negiert, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist.” (Zitat eigene Publikation S.5).

„Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sogenannte Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt.“ (Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs Nr. 63/1999).

Nachdem dieses Urteil gesprochen worden war, habe ich noch zwei Glaubwürdigkeitsgutachten geschrieben und beschlossen, unter diesen Bedingungen nicht mehr in diesem Bereich zu arbeiten.

Unabhängig davon, dass sehr viele professionelle Personen bezüglich dieser – meines Erachtens nach „verkorksten“ – Rechtsprechung nur mit Unverständnis reagieren und dass ein großer Teil der fachlich versierten und normalen Bürger diese Aussagen bis heute nicht verstehen, erscheint mir dieses Urteil eher die Täter zu begünstigen. Die Opfer, besonders die schwer und langwierig missbrauchten Menschen, haben seit 30 Jahren das Nachsehen.

Hauptkritikpunkt ist, dass für schwerwiegend traumatisierte Menschen diese Art der Begutachtung eine starke psychische Belastung darstellt und nach meinen Erfahrungen ihre Aussagen in der Regel als nicht glaubwürdig eingeschätzt werden.

3.1. Suggestionen

Sobald der/die Sachverständige einen Hinweis findet, dass die Aussage des Kindes nicht ganz eigenständig entstanden ist, dass Suggestionsprozesse stattgefunden haben könnten oder dass es andere Beeinflussungen gegeben haben könnte, gilt die Unwahrhypothese. Andere Fakten werden dann nicht weiter untersucht.

Ich berichte hier von 2 Fällen, wo das Verfahren auf Grund des angeblichen Suggestionseinflusses eingestellt wurde. Es gibt darüber hinaus zahlreiche weitere Begutachtungsfälle, die mit dieser Argumentation eingestellt wurden.

Fall 1

Die Aussagen eines 12-jährigen Mädchens, dass sie durch ihren Vater sexuell missbraucht wurde, wurden zunächst als glaubwürdig eingestuft. Während des Gerichtsprozesses erklärte eine Schöffenrichterin, dass sie das Mädchen aus ihrer Arbeit im Kindergarten kennen würde.

Bereits damals habe es den Verdacht auf Missbrauch gegeben und das Kind sei mit Hilfe anatomisch korrekter Puppen untersucht worden. Angeblich konnte sich keiner mehr erinnern, wer die Untersucherin war und es fanden sich auch keinerlei Notizen oder Hinweise auf die Ergebnisse.

Ein erneut hinzugezogener Sachverständiger kam jetzt zu der Aussage, dass die Glaubwürdigkeit des Mädchens nicht mehr gegeben sei, da das Mädchen im Kindergartenalter mit anatomischen Puppen untersucht worden sei. Der Vater wurde daraufhin freigesprochen.

Meine nachträgliche ausführliche Recherche in diesem Fall als Gutachterin für ein Familiengericht ergab, dass es Aussagen mehrerer Mädchen (Cousine, Freundin) gab, die angaben, durch diesen Mann sexuell missbraucht worden zu sein. Ein Kind (Schulkameradin des Mädchens) war sogar stark unter Druck gesetzt und bedroht worden, keine Aussagen zu tätigen.

Fall 2

Zwei Mädchen aus schwierigen sozialen Verhältnissen hatten von sexuellem Missbrauch durch mehrere Männer, um den Vater herum angesiedelt, berichtet.

Sie waren vorübergehend in einem Kinderheim untergebracht worden und der zu begutachtende Sachverständige kam zu dem Schluss, dass die Aussagen der Mädchen nicht mehr zweifelsfrei auf eigenen Erfahrungen beruhten, da sich in dem Kinderheim mehrere andere Kinder und Jugendliche befanden, die ebenfalls von sexuellem Mißbrauch – auch den Mädchen gegenüber – berichtet hatten.

Bereits eine therapeutische Intervention, die Befragung durch die Mutter oder nur der Umgang und das Kennen anderer traumatisierter Kinder soll Suggestion sein? Wenn ich vor der Begutachtung mit einem Kind therapeutisch arbeite, besteht die reale Gefahr, dass anschließend der Aussage des Kindes nicht geglaubt wird, da das Kind suggestiv beeinflusst worden sein soll. Dies habe ich mehrfach erlebt, obwohl ich in einem Fall sämtliche Therapiesitzungen per Video aufgezeichnet hatte und der Sachverständigen diese angeboten hatte.

Ich finde es nicht akzeptabel, wenn notwendige Hilfe nach stattgefundener Traumatisierung auf Grund möglicher suggestiver Einflüsse nicht stattfinden kann.

Bezüglich des angeblichen suggestiven Einflusses bei der Anwendung der anatomisch korrekten Puppen habe ich Erfahrungen gemacht, die diesem widersprechen. Ich habe diese Puppen gerne als Hilfsmittel, besonders bei kleinen oder behinderten Kindern eingesetzt.

Ich möchte an dieser Stelle zwei Fälle schildern, wo der Einsatz der Puppen ein weiteres Märtyrium für einige Kinder beendet hat.

Fall 3:

In einem Kindergarten hatte man den Eindruck, dass drei Geschwisterkinder sexuell missbraucht würden, wobei das älteste Kind gerade eingeschult worden war. Das Jugendamt erreichte beim Familiengericht, dass ich die Kinder im Kindergarten diagnostisch untersuchen durfte und dass die Kinder für den Fall, dass sich der Verdacht erhärten würde, aus der Familie direkt herausgenommen würden. Mit Hilfe der anatomisch korrekten Puppen konnten mir bereits während der ersten Sitzung zwei von den drei Kindern, die ich unter Videoaufzeichnungen untersuchte, mit den Puppen sexuelle Missbrauchshandlungen, begangen durch den Vater, zeigen. Der älteste Junge konnte es nicht, der hatte extreme Angst vor Bestrafung, wenn er etwas sagen würde. Der Verdacht hatte sich erhärtet und noch am gleichen Tag wurden die Kinder, einschließlich eines Babys, das sich noch zu Hause befand, in Obhut genommen. Als die Kinder sich im Kinderheim einigermaßen sicher fühlten, setzte ich meine Untersuchungen fort. Der älteste Junge konnte nun berichten und mit Hilfe der Puppen zeigen, wie der Vater ihn, die beiden kleinen Mädchen und auch das Baby missbrauchte. Er zeigte auch, wie die Mutter einmal während einer Missbrauchssituation dazu kam, aber gleich wieder ging. Er zeigte auch Missbrauchshandlungen durch den Großvater mütterlicherseits. Ich bekam den Auftrag, neben dem familienrechtlichen Gutachten, ein Glaubwürdigkeitsgutachten über die Kinder zu erstellen. Mit dem mir vorliegenden Material war es mir nur ansatzweise möglich, die Glaubwürdigkeit zu bestätigen.

Mit der Herausnahme der Kinder, trennte sich der wesentlich ältere Vater von der Mutter. Beide wurden angeklagt, die Mutter wegen unterlassener Hilfeleistung. Die Staatsanwältin hatte mein Gutachten sorgfältig gelesen. Die Mutter begab sich nach der Trennung in eine Klinik für Psychiatrie, arbeitete lange Zeit an sich und hatte dann beschlossen, alles was sie wusste, auszusagen. Sie war selber durch ihren eigenen Vater sexuell missbraucht worden und hatte dem Vater der Kinder nichts entgegen zu setzen gehabt. Sie berichtete auch, wie das Baby missbraucht worden wäre, etwas, was ich zu diesem Zeitpunkt nicht erkennen konnte und wäre es nach mir gegangen, hätte ich das Baby in der Familie gelassen. Die Kinder mussten nicht mehr vernommen werden und das Glaubwürdigkeitsgutachten hatte sich erübrigt. Der Vater der Kinder wurde auf Grund der Aussagen der Mutter zu 11 Jahren Haft verurteilt.

Fall 4:

In einem anderen Fall hatte das Jugendamt den Verdacht, dass der Großvater zwei Mädchen, die noch den Kindergarten besuchten, missbrauchen könnte. Das ältere Mädchen war geistig behindert, das jüngere Mädchen extrem ängstlich und schüchtern. Ich durfte die Kinder im Kindergarten untersuchen und der Familienrichter hatte zugestimmt, dass die Mädchen bei Erhärtung des Verdachts sofort aus der Familie herausgenommen würden, wie in dem zuvor genannten Fall. Das hatte ich so empfohlen, damit die Eltern nicht noch ihre Kinder beeinflussen konnten, nichts zu sagen. Im Kindergarten zeigte mir das behinderte Mädchen mit den anatomischen Puppen, wie sie durch einen Opa missbraucht wurde, zeigte aber auch, wie der Opa mit der Mutter sexuellen Kontakt hat. Die Väter der Kinder waren unbekannt, angeblich jeweils eine Zufallsbekanntschaft in einer Diskothek. Die Mutter hatte vor kurzem ein 3. Kind tot geboren, welches stark behindert war. Als die Mitarbeiter des Jugendamtes die Mutter über die Herausnahme der Kinder informieren wollten, bin ich mitgegangen. Die Jugendamtsmitarbeiter, die Angst vor den aggressiven Ausbrüchen des Großvaters hatten, hatten die Polizei um Schutz gebeten, die vor der Tür wartete. Hilfreich war, dass die Mitarbeiter des Jugendamtes und die Polizeibeamten sich kannten. Das Gespräch mit der Mutter fand in dem Wohnzimmer des Großvaters statt, der eine große Computeranlage hatte, für einen damaligen Sozialhilfeempfänger ungewöhnlich. Als der eine Polizist dies sah, erwirkte er parallel zu unserem Gespräch bei der Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss. Der Großvater war wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornographie vorverurteilt. Die Polizei fand damals Mengen von kinderpornographischen Aufzeichnungen und Verpackungsmaterial für CD`s. Diese Datenträger waren seinerzeit gängig. Ich hatte den Verdacht, dass es sich bei den Kindern um Inzestkinder handeln könnte, besonders weil das behinderte Mädchen dies mit den Puppen auch in der zweiten Untersuchung gezeigt hatte. Ich bat die Staatsanwaltschaft, eine DNA Analyse zu veranlassen. Zunächst wurde das abgelehnt, später genehmigt. Es stellte sich heraus, dass die beiden Kinder Inzestkinder waren. Auch das totgeborene Kind war ein Inzestkind, man hatte den Leichnam aufgehoben. Es soll auf Grund des gesicherten Datenmaterials weitere Verhaftungen bei Männern gegeben haben, die damit beliefert worden waren.

Soweit meine nostalgischen Erinnerungen an Fälle, die ohne die Puppen so nicht hätten aufgeklärt werden können.

Die Bundespsychotherapeuten Kammer (BPTK) fordert unter dem Oberthema „Sexuelle Gewalt“, Betroffene schon während der Vernehmung zu behandeln (Deutsches Ärzteblatt Ausgabe 1/2021, Seite 4). Viele Kinder und Jugendliche, die auf Grund sexueller Gewalt leiden, seien dadurch schwer belastet. Sie würden eine intensive psychotherapeutische Behandlung benötigen. In dieser Forderung steht unter anderem: „Eine Psychotherapie stehe der Beweiserhebung nicht im Weg, sondern mache sie vielfach überhaupt erst möglich“.(Zitat s.o.)

Es wird dort weiterhin gefordert:

  • die Strafverfahren bei minderjährigen Opfern sexualisierter Gewalt zu beschleunigen
  • eine Verschärfung des Strafrechts
  • eine Erweiterung der Ermittlungsbefugnisse
  • eine verbesserte Qualifikation der Jugendrichter und Staatsanwälte
  • eine stärkere Prävention

 

In einem Leserbrief habe ich geschrieben, dass dies alles sehr wünschenswert ist, aber ohne Veränderung der Haltung vieler GlaubwürdigkeitsgutachterInnen und ohne Veränderung der bestehenden Glaubwürdigkeitskriterien dies nicht möglich sein wird.

3.2. Dissoziationen

Die Folgen schwerwiegender und langanhaltender Traumatisierungen können sich in Form von dissoziativen Störungen bemerkbar machen. Das Abspalten von Gefühlen, Wahrnehmungen, Körperempfindungen, Bewusstsein, Gedächtnis und Motorik können dazu gehören.

An dieser Stelle möchte ich zwei Beispiele anführen:

Fall 5:

Eine 15-jährige Jugendliche lebte auf Grund der Erkrankung ihrer Mutter in einem Kinderheim und die Eltern waren seit längerem getrennt. Sie war – für mich glaubhaft – durch ihren Vater über Jahre sexuell missbraucht worden, hatte dies aber nicht erzählen können, da sie zum Einen extrem starke Angst vor ihrem Vater hatte, zum Anderen unter immer mal wiederkehrenden dissoziativen Störungen litt. Als sie dann endlich den Mut hatte auszusagen, wurde sie bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit begutachtet. Sie schilderte während der Begutachtung eine Situation, in der sie Anfangshandlungen durch ihren Vater benennen konnte. Sie habe im Bett gelegen, der Vater sei ins Zimmer gekommen, habe ihr die Bettdecke weggezogen und mit den Missbrauchshandlungen begonnen. Als er dann auf ihr gelegen habe, seien alle weiteren Erinnerungen verschwommen und sie könne sich an nichts mehr erinnern. Auf Grund dieser Aussage wurde sie als nicht glaubwürdig eingestuft und diese sehr deutliche Dissoziation wurde nicht berücksichtigt.

Fall 6:

Für ein Kinderheim sollte ich 2 Jungen begutachten, die in ihrer Herkunftsfamilie sozial verwahrlost waren und wahrscheinlich durch zwei junge Männer für kinderpornographische Zwecke missbraucht worden waren. Einer der Jungen konnte sehr konkrete Aussagen über die Räumlichkeiten und andere Situationsvariablen machen. Als er dann die tatsächlichen Handlungen benennen sollte, erzählte er, dass er sich hätte befreien können, rausgerannt sei und die Polizei gerufen hätte. Die hätte seinen jüngeren Bruder befreit. Hier entwickelte der Junge Größenphantasien, um die traumatischen Erfahrungen nicht schildern zu müssen oder er hatte die Realität von sich abgespalten. Auf Grund seiner Schilderungen konnte die Polizei tatsächlich die beiden jungen Männer dingfest machen und das kinderpornographische Material sicherstellen.

Bei einer Glaubwürdigkeitsbegutachtung hätte diese Art der Dissoziation ausgereicht, um seine Aussagen als nicht glaubwürdig einzustufen.

3.3. Amnesien

Im medizinischen Kontext ist seit langem bekannt, dass massive traumatische Erfahrungen mit Amnesien belegt sein können. In der “Internationalen Klassifikation psychischer Störungen” (ICD-10, DILLING, MOMBOUR, SCHMIDT, 1993) werden unter F44.0 die Symptome der „dissoziativen Amnesie“ beschrieben. „Die Amnesie zentriert sich gewöhnlich auf traumatische Ereignisse wie Unfälle oder unerwartete Trauerfälle und ist in der Regel unvollständig und selektiv. Ausmaß und Vollständigkeit der Amnesie variieren häufig von Tag zu Tag und bei unterschiedlichen Untersuchern. Es lässt sich aber ein beständiger Kern feststellen, der im Wachzustand nicht aufgehellt werden kann.“ (Zitat S.175).

Auch aus meiner langjährigen therapeutischen Arbeit mit PatientenInnen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden, kann ich dies nur bestätigen.

Selbst wenn es wissenschaftlich – noch nicht – bewiesen ist, heißt es nicht, dass es das Phänomen nicht gibt. Ich kenne eine Vielzahl von PatientenInnen, bei denen die Erinnerungen über Jahre ausgeblendet waren. Meist gibt es eine große psychische Unvereinbarkeit der Ereignisse, so dass diese dann in die Verdrängung geschoben werden. Ich denke auch, dass alles, was mit einem Menschen passiert, in seiner Hirnregion, aber auch in seinem Körper gespeichert ist. Es ist tatsächlich „wie eingebrannt“, aber nicht unbedingt immer verfügbar.

An dieser Stelle möchte drei Beispiele schildern, die ich im therapeutischen Kontext erlebte.

Fall 7:

Ein Patientin wurde – nach therapeutischen Erkenntnissen – vom Kleinkindalter an in ihrer Familie durch ihrem Vater sexuell missbraucht. Es handelte sich um eine Inzestfamilie. Der Vater “liebte” das Mädchen und verehrte es und sie hielt heimlich zu ihm. Die Mutter, die selber innerpsychische Schwierigkeiten hatte, war auf die Tochter eifersüchtig, bekämpfte diese und demütigte den Vater, weil sie frustriert war. Der Vater wehrte sich nicht dagegen, weil er Schuldgefühle hatte. Das Mädchen vergaß die Missbrauchshandlungen, obwohl es sich sehr gut an viele Dinge aus ihrer Kindheit erinnern konnte. Hätte sie zum Kinderzeitpunkt die Missbrauchshandlungen präsent gehabt, so hätte sie den einzigen Menschen, von dem sie glaubte, dass er sie liebt – den Vater – für sich verloren. Erst im Alter von 36 Jahren, als ihre eigenen Kinder in dem Alter waren, in dem sie selber missbraucht wurde – tauchten die ersten Erinnerungen auf. Erst vage, dann bruchstückhaft und nach einer langjährigen und stufenweise funktionierenden Therapie fügte sich das Gesamtbild des Missbrauchs zusammen.

Fall 8:

In diesem Zusammenhang möchte ich eine Sachverständige zitieren, die eine erwachsene Frau begutachten sollte, die erst vor einiger Zeit sexuelle Missbrauchshandlungen durch ihren Vater und dessen neuer Partnerin erinnerte.

„Auch aus traumatherapeutischer Sicht ist es gedächtnispsychologisch weder sinnvoll noch möglich, ein traumatisches Ereignis tatsächlich über Jahre nicht zu erinnern, da eben traumatische Erfahrungen in bestimmte Hirnregionen unlöschbar „eingebrannt“ werden. (Zitat)

Die zu begutachtende Frau hatte nach und nach immer mehr Missbrauchssituationen erinnert. Die Sachverständige hatte diesen Sachverhalt als “Wuchern” der Erinnerungen bezeichnet und behauptet, dass eine Ausweitung der Erinnerungen nicht möglich sei.

Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Erinnerungen an vielfache traumatische Erfahrungen durch das Berichten weiter freigesetzt werden – manchmal überraschend schnell, manchmal braucht es längere Zeit.

Die Unterstellung von einigen GlaubwürdigkeitsgutacherInnen, dass Menschen mit der Schilderung von sexuellen Missbrauchserfahrungen ohne realen Hintergrund eigene psychische Schwierigkeiten entschuldigen könnten und damit entlastet seien, halte ich nach meinen Erfahrungen für völlig unangemessen.

GlaubwürdigkeitsgutachterInnen behaupten, dass es Amnesien nicht geben würde. Dies entspricht nicht der therapeutischen Realität. Meine Erfahrung ist, dass Kinder beziehungsweise Erwachsene sich dann nicht an Missbrauchshandlungen erinnern können, wenn sie besonders schwerwiegend waren, mit Todesdrohungen belegt waren oder besonders schamvoll, schmerzvoll oder nicht mit dem eigenen inneren Konzept vereinbar.

Fall 9:

An dieser Stelle möchte ich Ihnen von einem bemerkenswerten Beispiel berichten:

Eine erwachsene Patientin erinnerte Missbrauchshandlungen im Alter von 4 bis 8 Jahren. Diese bearbeitete sie mit mir als Therapeutin und es ging ihr psychisch wesentlich besser. Die Patientin war 17 Jahre alt, als ihre Mutter erkrankte und in der langwöchigen Abwesenheit der Mutter habe die Patientin mit im Ehebett des Vaters geschlafen. Erst nach ca. 8 Jahren Therapie – die mit Unterbrechungen stattfand – erinnerte sie sich während eines Urlaubs, dass der Vater sie auch während der Zeit, als sie mit im Ehebett schlief, sexuell missbraucht hatte. Sie schrieb diese Erinnerungen auf und vergaß die Erinnerungen wieder. Wochen später rief sie mich als Therapeutin entsetzt an und bat um einen Notfalltermin. Sie hatte die Notizen gefunden, die sie während des Urlaubs gemacht hatte und war selber darüber fassungslos. Sie hatte demnach die Erinnerungen, die sie aufgeschrieben hatte, erneut wieder vergessen. Hauptverdrängungsgrund war die psychische Unvereinbarkeit. Sie befand sich in einem Alter, in dem sie hätte „nein“ sagen können. Sie hatte viele Kontakte mit Freunden, ging auch in die Disco und hätte sich vom Vater abgrenzen können. Sie machte in dieser Zeit die sexuellen Handlungen mit ihrem Vater „gewohnheitsmäßig“ mit, weil sie nie hatte etwas dagegen setzen können und dürfen.

3.4. Unwissenheit der Sachverständigen

Ich habe mehrfach erlebt, dass Sachverständige Aussagen für nicht glaubwürdig befanden, weil sie die von den Kindern genannten sexuellen Praktiken sich nicht vorstellen konnten bzw diese nicht kannten.

Fall 10:

Eine Sachverständige sollte ein 9 jähriges Mädchen begutachten, welches schon mehrere Jahre in einem Kinderheim lebte und das erst ganz allmählich – für mich glaubwürdig – von erfahrenen sexuellen Missbrauchshandlungen berichten konnte. Da es durch den Vater mehrfach, auch bereits im Heim lebend, bedroht worden war, nicht darüber zu sprechen, dauerte es recht lange, bis sie sich öffnen konnte. Dieses Mädchen erzählte von Praktiken, wo sie gefesselt und von Hunden bestiegen worden war. Sie berichtete auch davon, dass die Mutter mit ihren Haaren an einem Nagel aufgehängt worden sei und das sie an ihr sexuelle Handlungen habe durchführen müssen, während der Vater das gefilmt habe.

Derartige Praktiken waren der Sachverständigen so fremd, dass sie das Mädchen auf Grund dieser Aussagen als nicht glaubwürdig einstufte.

Eine jüngere Schwester des Mädchens war ebenfalls extrem auffällig und deutete ähnliche Erfahrungen an.

In diesem Fall wäre es für wahrscheinlich zahlreiche Opfer sehr hilfreich gewesen, wenn dieser Mann für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen worden wä, wenn weiter ermittelt worden wäre.

Fall 11:

Eine Sachverständige bewertete die Aussage eines Jungen für nicht glaubwürdig, da er gesagt hatte, dass man ihn gezwungen habe, die Hand oder auch einen Fuß – der Junge war damals ca. 5 Jahre alt – in eine Vagina oder in einen Anus einzuführen. Dies sei praktisch nicht möglich.

Ich hatte in einem anderen Prozess, an dem ich als Therapeutin mitbeteiligt war, durch meine Patientin von einer ähnlichen Praktik erfahren. Der Vater habe von ihr verlangt, dass sie ihre Faust in seinen Anus einführen solle. Der damalige Richter war wohl sehr erfahren und glaubte den Aussagen meiner Patientin, die sehr viele Schwierigkeiten hatte, dies überhaupt zu äußern, da sie sich wegen dieser Handlungen extrem schämte.

In diesem Bereich gibt es eine Vielzahl von Glaubwürdigkeitsgutachten, wo deutlich wird, dass es gut ist, wenn ein/e Sachverständige/r über viele Informationen bezüglich möglicher Missbrauchshandlungen verfügt.

Noch schwieriger wird es, wenn ein Kind über Jahre durch rituellen Missbrauch oder Pädophilenkreise missbraucht wurde. Nach meiner Erfahrungen verfügen viele Sachverständige nicht über genügend Wissen bezüglich der dort angewendeten Missbrauchshandlungen, der Geheimhaltungsmechanismen und der Foltermethoden, die bei einem Kind schwere psychische Störungen verursachen können.

3.5. Allgemeine Gedanken zur Glaubwürdigkeitsbegutachtung

Kinder brauchen eine Sprache und die Genehmigung zum Sprechen.

Es ist begrüßenswert, dass Kinder verhältnismäßig früh aufgeklärt werden, dass es Präventionsmaßnahmen gibt, wie „Mein Körper gehört mir“ und dass auch Eltern relativ früh den Kindern die Namen für Geschlechtsteile beibringen. Immer wieder passiert es mir in der Praxis, dass ein Kind mit einer Reihe von Symptomen in die Therapie kommt und sich im Verlauf der Therapie dann auf Grund von Äußerungen und Verhaltensweisen der Verdacht ergibt, dass dieses Kind auch möglicherweise sexuelle Missbrauchserfahrungen gemacht haben könnte.

Aber es hat seine “eigene Sprache” und kann erfahrene Traumata nicht als solche benennen. So sagte mir – um nur ein Beispiel zu nennen – ein 4 jähriges Mädchen, das durch den Vater anal missbraucht worden war, dass der Vater eine Bohrmaschine genommen hätte und die hinten bei ihr reingesteckt hätte. Das Mädchen hatte nicht sehen können, was der Vater hinter seinem Rücken tat.

Hier möchte ich ein Beispiel benennen, welches ich im therapeutischen Kontext erlebte:

Ein 6 jähriges Kind sagte zu einer Bildtafel im „Schweinchen-Schwarzfuß-Test“, ein Bild wo ein kleines Schwein bei einer Ziege am Euter nuckelt: „Das ist wie Penislutschen“. Das gleiche Kind hatte Ekzeme am Mund, sprach undeutlich, so als hätte es eine Kartoffel im Mund, litt unter Ein- und Durchschlafstörungen, mochte grundsätzlich nicht das tun, was ein Erwachsener sagte. Es nässte seit dem fünftem Lebensjahr wieder ein, obwohl es vorher trocken war und die Mutter, die das Kind zur Therapie brachte, war ratlos. Sorgfältige Diagnostik ergab dann, dass sich die Lebenssituation für das Kind im Alter von 4 ½ Jahren veränderte, da die Mutter einen neuen Partner hatte. Nachfolgende Gespräche und weiterführende Diagnostik ergaben den Verdacht, dass es sexuell missbraucht worden sein könnte.

Dieses Kind hätte nicht über mögliche Missbrauchserfahrungen sprechen können, wenn ich als Therapeutin ihm nicht die Gelegenheit dazu gegeben hätte. Ich muss das Thema einführen, damit es darüber sprechen kann. Ein derartiges Vorgehen wird von den Glaubwürdigkeitsgutachtern als „suggestiv“ eingestuft und bei der Aussageentstehung wird sofort gemutmaßt, dass die dann getätigten Aussagen des Kindes „implantiert“ worden seien.

Hätte es damals die inzwischen gegründeten Kinderschutzambulanzen gegeben, die derartige Aufträge, ein Kind bezüglich möglicher sexueller Missbrauchshandlungen zu untersuchen, übernehmen, hätte ich diesen Fall gut abgeben können. Denn eines ist klar, ein Kind in diesem Alter würde nach den heutigen Glaubwürdigkeitskriterien als unglaubwürdig eingestuft.

Besonders bei langjährigem sexuellen Missbrauch verschwimmen die einzelnen Erinnerungen bzgl. der Reihenfolge der sexuellen Handlungen. Dies ist bei einmaligen sexuellen Handlungen anders, nicht aber, wenn sie sich über Jahre in ähnlicher Form wiederholen. Es ist ein Unding zu erwarten, dass sich die einzelnen Abfolgen über Jahre erinnerbar abspeichern.

Gerade bei langjährig sexuell missbrauchten Menschen habe ich als Therapeutin immer wieder beobachtet, dass sich Patienten zunächst an relativ harmlose sexuelle Übergriffe erinnern die passierten, als sie älter waren, dann an Missbrauchshandlungen, die länger zurückliegen und ganz häufig im späteren Verlauf der Therapie Erinnerungen an ganz frühe Missbrauchshandlungen haben.

Eine junge Frau, die über Jahre durch ihren Vater und deren Lebensgefährtin sexuell missbraucht worden war, wurde als nicht glaubwürdig eingestuft, da sie unter einer psychischen Erkrankung litt und da sie die Reihenfolge der sexuellen Handlungen während einer Situation zeitlich unterschiedlich berichtete.

Die Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten auf Grund psychotraumatologischer Beeinträchtigungen werden in der Regel nicht berücksichtigt.

Besonders sexuelle Missbrauchshandlungen, die große Scham und Schuldgefühle hervorrufen (ein Kind wird z.B. gezwungen, an einem anderen Kind sexuelle Handlungen durchzuführen), werden anders verdrängt als z.B. Missbrauchshandlungen, die ganz offensichtlich rechtlich nicht in Ordnung sind (ein Fremdtäter überfällt ein Kind und missbraucht es).

Die bestehenden Realkennzeichen verhindern, dass Kinder, die über viele Jahre und sehr komplex sexuell missbraucht worden sind und einen Teil davon erinnern können, aber zum Beispiel die Abfolgen oder bestimmte Handlungen vertauschen, als glaubwürdig eingestuft werden.

Ich kenne eine Reihe von Gutachten, wo dies der Fall ist und verstehe nicht, warum es nicht als eine normale menschliche Eigenschaft angesehen werden kann, wenn man die Reihenfolge von Handlungselementen vertauscht.

An dieser Stelle vielleicht meine unangenehme Frage an Sie, ob Sie sich an die letzten 5 Jahre ihres Sexuallebens erinnern und davon berichten können. Man erinnert Regelmäßigkeiten, die man auch so darstellen kann, aber einzelne Inhalte, auf die es bei einer Glaubwürdigkeitsbegutachtung ankommt, kann man nicht mehr unbedingt auseinanderhalten, es sei denn, dass z.B. besondere Ereignisse einen Sexualakt unterbrochen haben.

Wesentlich verheerender ist es allerdings, wenn Kinder über Jahre rituellem sexuellen Missbrauch ausgesetzt waren oder auch Opfer organisierter pädophiler Kreise wurden. Besonders wenn Kinder dissoziative Störungen entwickelt haben, kann das Wiedererinnern stark gestört sein und dissoziative Phänomene finden in der Regel keine angemessene Bewertung durch einen/e GlaubwürdigkeitsgutachterIn.

Kinder haben verständlicherweise enorme Angst, Aussagen vor Gericht zu tätigen. Von einer traumatischen Erfahrung zu erzählen, reaktiviert das Trauma-Geschehen. Wenn Kinder in ihren Aussagen nicht sehr stabil sind, wenn sie große Ängste haben, wenn sie dissoziieren, wenn sie bereits Therapie gemacht haben oder wenn sich die Eltern in einer Trennungssituation befinden, rate ich in der Regel von einer Anzeige ab, um den Kindern die Zeugenaussagen und besonders die Glaubwürdigkeitsbegutachtung zu ersparen. Dabei würde man wertvolle Informationen erhalten, wenn man diesen Kindern auf einfühlsame Art zuhören würde und könnte so die ein oder andere weitere Straftat verhindern. Das Wissen von dem in der Regel suchtähnlichen Verhalten Pädophiler setze ich an dieser Stelle als bekannt voraus.

Fazit:

Kleine Kinder, behinderte Kinder, schwer traumatisierte Kinder, Kinder die durch rituellen Missbrauch oder Pädophilenkreise missbraucht wurden, haben keine Chance, als glaubwürdig eingestuft zu werden.

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