Modifizierung der derzeitigen Glaubwürdigkeitsbegutachtung bei Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch dringend notwendig

Einzelvortrag von Dipl. Psych. Ulrike Giernalczyk im Rahmen der digitalen Veranstaltung „Trauma und Traumafolgestörungen Soziale Verantwortung, Staat und Justiz“ der DeGPT vom 17. – 20.03.2021

Inhaltsangabe:

  1. Trauma

1.1. Das Trauma

1.2. Trauma beim sexuellen Kindesmissbrauch

  1. Geschichtliche Aspekte der Begutachtung
  2. Folgen der neuen Rechtsprechung – die Unwahrhypothese

3.1. Suggestionen

3.2. Dissoziationen

3.3. Amnesien

3.4. Unwissenheit der Sachverständigen

3.5. Allgemeine Gedanken zur Glaubwürdigkeitsbegutachtung

  1. Langwierige Folgen, wenn ein Kind als unglaubwürdig eingestuft wird
  2. Veränderungsvorschläge
  3. Abschließende Forderungen
  4. Anhang

7.1. Angaben zur Referentin

7.2 Veröffentlichungen

Hier als PDF runter zuladen: Vortrag_DeGPT 23_2_2021

7. Anhang

7.1. Angaben zur Referentin

Ulrike Giernalczyk, geb. 1952

Diplom-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin für tiefenpsychologisch fundierte Einzeltherapie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eigener Praxis, seit 1993

Sachverständige für Familien- und Strafgerichte 1992 bis 2002 7. Anhang weiterlesen

4. Langwierige Folgen, wenn ein Kind als unglaubwürdig eingestuft wird

Wird ein Kind als nicht glaubwürdig eingestuft, so kann das weitreichende Nachfolgen haben.

Angenommen ein Kind wurde durch Missbrauchshandlungen stark traumatisiert, entwickelte dissoziative und andere schwerwiegende psychische Symptome. Es kann von den Missbrauchshandlungen berichten und alle Symptome sprechen dafür, dass es derartige Handlungen erlebte. Dennoch wird das Kind als nicht glaubwürdig eingestuft, da man mit dem Kind vor der Begutachtung öfter darüber gesprochen hatte. Wenn dieses Kind später einen Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz stellen möchte, so wird dies in der Regel vom Versorgungamt abgelehnt, da es bei der Begutachtung nicht glaubwürdig war. 4. Langwierige Folgen, wenn ein Kind als unglaubwürdig eingestuft wird weiterlesen

6. Abschließende Forderungen

6.1. Aufgabe des negativen Ansatzes der Nullhypothese:

„Der Zeuge sagt die Unwahrheit”. Stattdessen die Annahme: Der Zeuge sagt die Wahrheit, bis das Gegenteil bewiesen ist.

6.2. Betrachtung nicht nur der kognitiven, verbalen Fähigkeiten, sondern Abwägen der vielfältigen Bedingungsvariablen:

6. Abschließende Forderungen weiterlesen

5. Veränderungsvorschläge

Nach meiner Einschätzung ist es unsinnig, dass man erst einmal davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene in Bezug auf mögliche sexuelle Missbrauchshandlungen die Unwahrheit sagen.

Wenn man erlebt, wie schwer es den traumatisierten Menschen fällt, überhaupt darüber zu sprechen und wie viele Scham- und Schuldgefühle damit verbunden sind, dann ist es logisch, dass es keinen erkennbaren Sinn (außer bei bösartigen Absichten) macht, derartige Dinge zu erfinden, geschweige denn Kindern dies einzureden und zu implantieren. Wobei ich nach wie vor bezweifle, dass dies überhaupt auf lange Sicht gesehen, möglich ist. 5. Veränderungsvorschläge weiterlesen

3. Folgen der neuen Rechtsprechung – die Unwahrhypothese

„Gegenstand der aussagepsychologischen Begutachtung ist die Beurteilung, ob die Angaben zu einem bestimmten Geschehen dem tatsächlichen Erleben der zu untersuchenden Person entsprechen. Dabei wird der zu überprüfende Sachverhalt so lange negiert, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist.” (Zitat eigene Publikation S.5). 3. Folgen der neuen Rechtsprechung – die Unwahrhypothese weiterlesen

1. Das Trauma

1.1. Das „normale“ Trauma

Nach der Definition der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) bedeutet ein traumatisches Ereignis „ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.“ (Zitat S.169; ICD-10, DILLING, H.,MOMBOUR, W.,SCHMIDT, M.H. 1993)

“In einer traumatischen Situation ist es in der Regel nicht möglich zu flüchten. Die traumatische Situation löst Ohnmacht und intensive Angst aus. Ein traumatisches Ereignis steht außerhalb dessen, was Menschen erwarten und übersteigt die Bewältigungsstrategien, die sie zur Verfügung haben. Es erschüttert deshalb auch das Vertrauen in die Welt und andere Menschen, verändert Weltsicht und Selbstverständnis.“ (Zitat s.o.)

Man unterscheidet zwischen Naturkatastrophen und „von Menschen verursachte Gewalt“.

Es gibt bekannte akute Folgen wie:

  • Intrusionen (wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Trauma)
  • Alpträume
  • Flash-Backs (Erinnern, als ob das traumatische Ereignis in der Gegenwart geschieht)
  • Intensive psychische Reaktionen bei Konfrontation mit dem Trauma
  • Körperliche Reaktionen beim Erinnern des Traumas, wie Zittern und Schwitzen.

Es kann nach erlebten Traumata zu unterschiedlichem Vermeidungsverhalten kommen und dieses kann Gedanken, Gefühle, Orte, Aktivitäten, Personen, die an das Trauma erinnern, betreffen.

Es kann zu Erinnerungslücken kommen und auch zu der Unfähigkeit, sich nur teilweise an bestimmte Aspekte des Traumas zu erinnern. Es kann zu Abgestumpftheit, Taubheit und Versteinerung führen, also zu einer Einschränkung des Gefühlsspektrums. Es kann ein Gefühl von Losgelöstheit und Entfremdung von sich selber und anderen mit sich bringen.

Häufig zu beobachtende Symptome sind:

  • Ein- und Durchschlafstörungen
  • Reizbarkeit, Wutausbrüche, erhöhte Schreckhaftigkeit
  • Konzentrationsstörungen
  • Übertriebene Aufmerksamkeit und Wachsamkeit

Es gibt chronische und komplexe Traumafolgen, besonders dann, wenn diese traumatischen Erfahrungen über längere Zeiträume stattfanden. Dabei sind Amnesien und dissoziative Störungen (Fragmentierung oder Abspaltung von Teilen der Erfahrung oder dem emotionalen Erleben) sowie Scham, Schuldgefühle und Selbstanklagen und auch unspezifische somatische Beschwerden keine Seltenheit.

1.2. Trauma beim sexuellen Kindesmissbrauch

In der Regel stellt der sexuelle Kindesmissbrauch für das betroffene Kind eine traumatische Erfahrung dar.

Dabei möchte ich die Definition des Unabhängig Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung zitieren:

„Sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie auf Grund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Macht und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“ (aus der Broschüre: Prävention)

Der sexuelle Kindesmissbrauch ist fast immer mit einem Syndrom von Geheimhaltung verbunden.

In der Regel handelt es sich bei dem sexuellen Kindesmissbrauch nicht um ein einziges Ereignis – Ausnahmen sind FremdtäterInnen oder GelegenheitstäterInnen – und es handelt sich meist bei den TäternInnen um Personen aus dem nahen sozialen Umfeld (ca. 80%).

Somit haben wir bei dem sexuellen Kindesmissbrauch, wenn er als Trauma erfahren wird, eine Reihe von Besonderheiten, die beim Sprechen über dieses Trauma hinderlich sind und die bereits bestehenden Symptome noch verstärken können.

  • Bedrohungen
  • Fehlende Sprache für sexuelle Ereignisse
  • Loyalitätskonflikte
  • Schamgefühle
  • Schuldgefühle
  • Geheimhaltung
  • Angst vor den Folgen (z.B.: Der Vater kommt ins Gefängnis; die Mutter wird krank, wenn sie das hört; du kommst in ein Kinderheim, wenn du so etwas sagst)

Kein anderes Trauma wird so gut verdrängt wie das des sexuellen Kindesmissbrauchs. Werden sexuelle Handlungen während der Schlafenssituation durchgeführt, gelingt die Verdrängung noch leichter, da sich das Kind in einem Trancezustand befindet.

Findet der Missbrauch durch eine Person statt, die zu einem Kind ein positives Verhältnis aufgebaut hat, so werden die Handlungen leichter verdrängt, weil es ein inkongruentes Verhalten ist (liebevolle, fürsorgliche Person einerseits – missbrauchende Person andererseits).

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2. Geschichtliche Aspekte der Begutachtung

Im Mittelalter wurden Kindern, Jugendlichen und Frauen grundsätzlich die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Dies hatte Auswirkungen auf die Rechtssprechung bis zur vorletzten Jahrhundertwende.

BINET und STERN waren dann um 1900 die ersten Männer, denen forensisch-psychologische Sachverständigentätigkeit übergeben wurde. Zunächst interessierte man sich für die Gedächtnis- und Wahrnehmungsfähigkeit, später für die allgemeine Glaubwürdigkeit, im Sinne einer allgemeinen Aussageehrlichkeit der betreffenden Person.

In der modernen Aussagepsychologie gibt es das Konzept der „speziellen Glaubwürdigkeit“, entwickelt von UNDEUTSCH (1967). Die Motivation zu wahrheitsgemäßen Aussagen wurde eher situationsabhängig betrachtet.

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