1.1. Das „normale“ Trauma
Nach der Definition der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) bedeutet ein traumatisches Ereignis „ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.“ (Zitat S.169; ICD-10, DILLING, H.,MOMBOUR, W.,SCHMIDT, M.H. 1993)
“In einer traumatischen Situation ist es in der Regel nicht möglich zu flüchten. Die traumatische Situation löst Ohnmacht und intensive Angst aus. Ein traumatisches Ereignis steht außerhalb dessen, was Menschen erwarten und übersteigt die Bewältigungsstrategien, die sie zur Verfügung haben. Es erschüttert deshalb auch das Vertrauen in die Welt und andere Menschen, verändert Weltsicht und Selbstverständnis.“ (Zitat s.o.)
Man unterscheidet zwischen Naturkatastrophen und „von Menschen verursachte Gewalt“.
Es gibt bekannte akute Folgen wie:
- Intrusionen (wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Trauma)
- Alpträume
- Flash-Backs (Erinnern, als ob das traumatische Ereignis in der Gegenwart geschieht)
- Intensive psychische Reaktionen bei Konfrontation mit dem Trauma
- Körperliche Reaktionen beim Erinnern des Traumas, wie Zittern und Schwitzen.
Es kann nach erlebten Traumata zu unterschiedlichem Vermeidungsverhalten kommen und dieses kann Gedanken, Gefühle, Orte, Aktivitäten, Personen, die an das Trauma erinnern, betreffen.
Es kann zu Erinnerungslücken kommen und auch zu der Unfähigkeit, sich nur teilweise an bestimmte Aspekte des Traumas zu erinnern. Es kann zu Abgestumpftheit, Taubheit und Versteinerung führen, also zu einer Einschränkung des Gefühlsspektrums. Es kann ein Gefühl von Losgelöstheit und Entfremdung von sich selber und anderen mit sich bringen.
Häufig zu beobachtende Symptome sind:
- Ein- und Durchschlafstörungen
- Reizbarkeit, Wutausbrüche, erhöhte Schreckhaftigkeit
- Konzentrationsstörungen
- Übertriebene Aufmerksamkeit und Wachsamkeit
Es gibt chronische und komplexe Traumafolgen, besonders dann, wenn diese traumatischen Erfahrungen über längere Zeiträume stattfanden. Dabei sind Amnesien und dissoziative Störungen (Fragmentierung oder Abspaltung von Teilen der Erfahrung oder dem emotionalen Erleben) sowie Scham, Schuldgefühle und Selbstanklagen und auch unspezifische somatische Beschwerden keine Seltenheit.
1.2. Trauma beim sexuellen Kindesmissbrauch
In der Regel stellt der sexuelle Kindesmissbrauch für das betroffene Kind eine traumatische Erfahrung dar.
Dabei möchte ich die Definition des Unabhängig Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung zitieren:
„Sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie auf Grund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Macht und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“ (aus der Broschüre: Prävention)
Der sexuelle Kindesmissbrauch ist fast immer mit einem Syndrom von Geheimhaltung verbunden.
In der Regel handelt es sich bei dem sexuellen Kindesmissbrauch nicht um ein einziges Ereignis – Ausnahmen sind FremdtäterInnen oder GelegenheitstäterInnen – und es handelt sich meist bei den TäternInnen um Personen aus dem nahen sozialen Umfeld (ca. 80%).
Somit haben wir bei dem sexuellen Kindesmissbrauch, wenn er als Trauma erfahren wird, eine Reihe von Besonderheiten, die beim Sprechen über dieses Trauma hinderlich sind und die bereits bestehenden Symptome noch verstärken können.
- Bedrohungen
- Fehlende Sprache für sexuelle Ereignisse
- Loyalitätskonflikte
- Schamgefühle
- Schuldgefühle
- Geheimhaltung
- Angst vor den Folgen (z.B.: Der Vater kommt ins Gefängnis; die Mutter wird krank, wenn sie das hört; du kommst in ein Kinderheim, wenn du so etwas sagst)
Kein anderes Trauma wird so gut verdrängt wie das des sexuellen Kindesmissbrauchs. Werden sexuelle Handlungen während der Schlafenssituation durchgeführt, gelingt die Verdrängung noch leichter, da sich das Kind in einem Trancezustand befindet.
Findet der Missbrauch durch eine Person statt, die zu einem Kind ein positives Verhältnis aufgebaut hat, so werden die Handlungen leichter verdrängt, weil es ein inkongruentes Verhalten ist (liebevolle, fürsorgliche Person einerseits – missbrauchende Person andererseits).
weiter zu: 2. Geschichtliche Aspekte der Begutachtung